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Lied des einfachen Menschen
Jura Soyfer
1936
Jura Soyfer
1936
Jura Soyfer, geboren als Sohn jüdischer Eltern 1912 in Charkow (Ukraine), war Autor und Kommunist und schrieb u.a. für die Arbeiterzeitung. 1938 wurde er ins Konzentrationslager Dachau und später Buchenwald deportiert, wo er 1939 an Typhus starb. In Wien, wo Jura Soyfer ab den 1920er-Jahren lebte, ist in Favoriten eine Gasse nach ihm benannt. Das Lied des einfachen Menschen wurde von verschiedenen Interpret*innen vertont: z.B. 1981 von den Schmetterlingen und 2014 von Maren Rahmann. Die Jura-Soyfer-Gesellschaft bietet seine Werke im open-access an.
Lied des einfachen Menschen
Menschen sind wir einst vielleicht gewesen
Oder werden’s eines Tages sein,
Wenn wir gründlich von all dem genesen
Aber sind wir heute Menschen? Nein!
Wir sind der Name auf dem Reisepaß,
Wir sind das stumme Bild im Spiegelglas,
Wir sind das Echo eines Phrasenschwalls
Und Widerhall des toten Widerhalls.
Längst ist alle Menschlichkeit zertreten,
Wahren wir doch nicht den leeren Schein!
Wir, in unsern tief entmenschten Städten,
Sollen uns noch Menschen nennen? Nein!
Wir sind der Straßenstaub der großen Stadt,
Wir sind die Nummer im Katasterblatt,
Wir sind die Schlange vor dem Stempelamt
Und unsre eignen Schatten allesamt.
Soll der Mensch in uns sich einst befreien,
Gibt’s dafür ein Mittel nur allein:
Stündlich fragen, ob wir Menschen seien,
Stündlich uns die Antwort geben: Nein!
Wir sind das schlecht entworfne Skizzenbild
Des Menschen, den es erst zu zeichnen gilt.
Ein armer Vorklang nur zum großen Lied.
Ihr nennt uns Menschen? Wartet noch damit!
Quelle
Jura Soyfer
Das Gesamtwerk
Herausgegeben von Horst Jarka
Wien/München/Zürich 1980, S. 214